[ Lars Thiede | Jens Prietzel ]

Am 9. November 1999 jährte sich zum zehnten Mal der Tag der Maueröffnung, ein Jahrestag, den viele Menschen mit politischer Freiheit und der Überwindung unüberwindbar geglaubter Grenzen verbinden. Zugleich ist der 9. November der Tag, an dem 1938 im gesamten damaligen ,,Deutschen Reich'' Pogrome gegen jüdische Menschen und Einrichtungen begangen wurden.

Für uns Gründe genug, um den 9. November in diesem Jahr zum Anlaß zu nehmen, unserer Forderung nach Abriß der unsichtbaren Mauer um die ,,Festung Europa'', die im Zuge des Schengener Abkommens errichtet wurde, öffentlich Nachdruck zu verleihen. So geschehen an den bundesweiten Aktionstagen vom 7. bis 10. November 1999 in Frankfurt/Main, Bremen, Eisenhüttenstadt, Berlin, Görlitz, Bielfeld und Hannover.

Egal, ob durch Infostände, Gespräche mit Flüchtlingen und Hilfsorganisationen, öffentlichen Aktionen oder thematischen Seminaren: Wichtigstes Ziel war, auf die neue, ,,unsichtbare'' Mauer um EU-Europa und die nicht hinnehmbare Behandlung von Flüchtlingen in und durch die Bundesrepublik Deutschland hinzuweisen und dagegen zu protestieren. Zugleich war unser Aktionstag auch eine Probe für die innerorganisatorische Mobilisierungskraft von ['solid].

Trotz aller Probleme und Anlaufschwierigkeiten haben wir es in mehreren Städten geschafft, Aktionen und Veranstaltungen zu organisieren, was uns alle optimistisch stimmen kann.

Seit der im Jahre 1993 durch die heimliche CDUCSUFDPSPD-Koalition durchgesetzten Deformation des Asylrechtsartikel 16 ist es nicht mehr möglich, nach einer legalen Einreise über den Landweg als Asylsuchende/r in der BRD anerkannt zu werden. Vor allem durch die sogenannte Dritt-Staaten-Regelung, sowie die rigide und oft außenpolitisch-strategischen Staatsinteressen nachgeordnete Beurteilung von Fluchtursachen, ist das formal noch bestehende deutsche Asylrecht in den letzten Jahren regelrecht ausgehölt worden. Unter dem Eindruck

rassistischer Morde und Übergriffe (Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Lübeck) am Anfang der 90er Jahre wurde mit der faktischen Abschaffung des Asylgrundrechtes zugleich eine der wichtigsten Lehren aus der Zeit des Faschismus in Deutschland aus dem Grundgesetz entfernt, die Inanspruchnahme eines Menschenrechtes unter den Vorbehalt der nationalistischen Konjunkturentwicklung in Deutschland gestellt. Hinzu kommt, daß viele Fluchtursachen, wie z.B. die Verfolgung durch nichtstaatliche Einrichtungen oder Unterdrückung aus geschlechtsspezifischen Gründen, in der Bundesrepublik auch durch das ,,alte'' Asylrecht vor 1993 gar nicht als Asylgrund anerkannt werden.

Das alles, und nicht ein angeblicher ,,Asylmißbrauch'', führen zu den geringen Anerkennungsquoten bei Asylsuchenden in der BRD. Wie zynisch dabei vorgegangen wird, zeigen die vielen Beispiele kosovo-albanischer Flüchtlinge und serbischer Deserteure im Vorfeld des NATO-Krieges gegen Jugoslawien. Noch zwei Wochen vor den Luftangriffen der NATO-Staaten wurden Kosovo-Albanerinnen und - Albaner sowie Kriegsdienstverweigerer nach Jugoslawien zurückgeschoben, weil sie dort angeblich keine Unterdrückung oder Repression zu befürchten hätten!

Aufgrund der restriktiven Asylpraxis in der Bundesrepublik versuchen zudem jedes Jahr tausende Menschen illegal über die Wasser- und Landgrenzen in die Bundesrepublik zu gelangen. Bei ihren Versuchen, dem technisch und personell hochgerüsteten Bundesgrenzschutz zu entgehen, kamen in den letzten Jahren über 500 Menschen beim Versuch der Grenzüberquerung ums Leben. Anders als bei den Toten an der Berliner Mauer ist von der offiziellen Politik kaum bis gar kein Protest darüber zu vernehmen.

Viele der abgelehnten Asylbewerberinnen und -bewerber werden in sogenannte Abschiebeknäste gesperrt, wo sie oft Monate auf eine endgültige Entscheidung über ihr Asylverfahren oder auf ihre Abschiebung warten müssen. Zwischen 3000 und 5000 Menschen sitzen zur Zeit, oft unter menschenverachtenden Bedingungen, in Abschiebeknästen. Und das, obwohl sie sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben. Über 20 Menschen haben sich in den letzten Jahren in den Abschiebeknästen aus Verzweiflung das Leben genommen.

Deshalb steht fest: Die ,,Festung Europa'' muß geschliffen, die Grenzen für alle Menschen in Not geöffnet werden. Das Asylrecht muß mindestens in seine Fassung vor 1993 wiederhergestellt werden, der Verfolgungsbegriff jedoch auch auf andere Formen der Verfolgung, Unterdrückung und Bedrohungen ausgedehnt werden. Einer solchen Reformulierung des Asylrechts muss zudem ein Menschenrechtsbegriff zugrunde liegen, der auch die sozialen Grundbedürftnisse einschließt: Vor dem Hintergrund der bestehenden ungerechten Weltwirtschaftsordnung werden auch Hunger und Elend zu realen Fluchtursachen für Menschen!

Staatliche Diskriminierungen, wie sie zum Beispiel durch das Asylbewerberleistungsgesetzes sanktioniert, und durch das ,,Sachleistungsprinzip'' vollzogen werden, gehören abgeschafft. Gleiches gilt für die systematische Kriminalisierung, wie sie zum Beispiel durch die Beschneidung grundlegender Bürgerrechte und die bewußte soziale Benachteiligung von Flüchtlingen betrieben wird, und in der Abschiebehaft ihren traurigen Höhepunkt findet.